Was hat ein Marathon wohl mit Veränderungsprozessen in Organisationen zu tun? Oder mit Veränderungsprozessen in Quartieren von Kommunen? Vieles, wie wir sehen werden!
Nehmen wir als Beispiel den Berlin-Marathon, an dem mitunter 40.000 Läufer und Läuferinnen mitlaufen. Nicht alle starten gleichzeitig, sondern sie starten in verschiedenen Gruppen. Zuerst starten die schnellen Läufer, dann die mittelschnellen und zuletzt die langsamen. Alle haben den selben Weg vor sich, werden aber sehr unterschiedlich mit den psychischen und physischen Herausforderungen klarkommen.
Im Veränderungsprozess ist es ähnlich. Nicht alle starten gleichzeitig. Ein Projektteam startet vor allen anderen und denkt über Strategien und Planungen nach. Später starten vielleicht die Führungskräfte, die einbezogen werden, aber auch unterschiedliche Vorstellungen mitbringen. Dinge, die das Projektteam schon bewältigt hat, kommen wieder hoch und werden erneut infrage gestellt. Noch später starten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Und auch in jeder dieser Gruppen gehen die Prozesse unterschiedlich schnell voran. Das Vorbereitungsteam ist gedanklich schon viel weiter und die letzten laufen gerade erst los. Wie im Marathon.

Der „Marathoneffekt“ ist ein Hinweis darauf, dass Veränderungen in Organisationen nicht immer gleichmäßig vorangehen, dass es wichtig ist, die unterschiedlichen Phasen des Wandels zu berücksichtigen und zu schauen, wer gerade in welcher Phase steckt und welche Unterstützung braucht. Die Marathon-Metapher hilft, zu verstehen, was in den einzelnen Beteiligten in den jeweiligen Phasen vorgeht, wie man sie besser abholen und einbinden kann. Auch wenn die ersten schon im Ziel sind, wollen die letzten noch angefeuert werden! Beachtet man den Effekt nicht, kann es passieren, dass manche sehr schnell voranschreiten, andere aber zurückbleiben. Der Marathoneffekt erinnert daran, die verschiedenen Beteiligten besser einzubinden.
Den Begriff Marathoneffekt beziehungsweise die Analogie zum Marathon hat William Bridges in seinem Buch „Managing Transitions, Making the most of change“ eingeführt. In seinem Buch beschreibt er wie unterschiedliche Gruppen innerhalb einer Organisation Veränderungen unterschiedlich schnell wahrnehmen und verarbeiten, und zwar zeitlich gesehen als auch emotional. Die Initiatoren, Führungskräfte und Projektteams hatten bereits Zeit gehabt, sich mit den Neuerungen auseinanderzusetzen und diese zu verinnerlichen. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hingegen werden erst später eingebunden und benötigen auch ihre Zeit um die Neuerungen zu verstehen und vor allem zu akzeptieren.
Alle Menschen durchlaufen Veränderungen in ihrem eigenen Tempo. Trauer, Angst, Verwirrung, Skepsis, Hoffnung, Neugier, Stolz, Verleugnung, Begeisterung, Akzeptanz, Erleichterung und viele Emotionen mehr treten auf, mal mehr mal weniger intensiv und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Damit muss man umgehen. Auch in Veränderungsprozessen läuft jeder sein eigenes Rennen in seinem eigenen Tempo.
Die oberste Führungsebene und das Projektteam haben sich am längsten mit den Projektdetails befasst und am stärksten die Möglichkeit gehabt, diese zu beeinflussen. Die Führungskräfte der nächsten Ebene hinken dem Prozess schon etwas hinterher, sie haben nicht so viele Informationen oder auch nicht mehr so viel Zeit, sich mit den erforderlichen Schritten zur Umsetzung vertraut zu machen. Alle anderen erfahren vielleicht gerade erst, dass es Veränderungen geben soll und versuchen zu verstehen, welche Bedeutung und Auswirkungen das für sie haben wird.
Was könnten die Folgen des Marathoneffekts sein?
Einige Folgen des Marathoneffekts sind oben bereits genannt worden. Weiter mögliche Folgen können sein:
- Ungleichförmige Fortschritte der verschiedenen Gruppen
Verschiedene Abteilungen oder Teams innerhalb einer Organisation befinden sich in verschiedenen Phasen der Veränderung. Das führt zu mangelndem Verständnis füreinander, zu Frust und zu Lonflikten - Spaltung der Organisation
Die Menschen, die früh in den Prozess involviert werden, sind eher überzeugt, andere, die erst später hinzustoßen sind noch skeptisch oder im Widerstand. - Führungskräfte gegen Mitarbeiter
Führungskräfte, die bereits früher in den Prozess eingestiegen sind, könnten die Fortschritte der Mitarbeiter als zu langsam wahrnehmen. - Widerstand
Wenn Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit dem Entwicklungsprozess überfordert werden, kann es zu Widerstand gegen die Veränderung kommen. - Kommunikationslücken
Für diejenigen, die schon länger mit dem Prozess befasst sind, ist vieles schon klar, währenddessen sich Nachzügler überrumpelt fühlen. Missverständnisse und Gerüchte verbreiten sich, Unsicherheit entsteht. - Nachzügler werden demotiviert
Wer sich abgehängt fühlt oder so behandelt wird, beteiligt sich nicht mehr aktiv, leistet passiven oder aktiven Widerstand. - Führungskräfte könnten Umsetzungsstand überschätzen
Wenn Verantwortliche und Führungskräfte den Umsetzungsstand einschätzen und dabei auf die falschen Gruppen schauen, könnten Maßnahmen zu früh beendet oder falsch priorisiert werden. - Scheitern des Veränderungsprozesses
Wenn ein großer Teil der Organisation nicht mitzieht, scheitert der Prozess
Was kann man tun, um dem Marathoneffekt zu begegnen?
Der erste und vielleicht wichtigste Punkt ist, sich den Marathoneffekt zu vergegenwärtigen und seine eigene Wahrnehmung über den Verlauf des Prozesses immer wieder daran zu überprüfen. Wehren sich Mitarbeiter gegen die Veränderung, weil wir zu schnell sind? Haben wir nicht genug kommuniziert? Geben wir genug Zeit? Wer befindet sich in welcher Phase des Prozesses? Wie fühlen sich die jeweiligen Beteiligten? Was können Sie tun, um es leichter zu machen?
Dazu gehört auch, zu erkennen, dass sich zwar alle Beteiligten an unterschiedlichen Punkten der „Wegstrecke“ befinden können, letztendlich aber jeder das Ziel erreichen wird. Die meisten werden ein gewisses Maß an Akzeptanz erreichen und mitmachen.
Kommunikation
Dass Kommunikation für einen Veränderungsprozess eine erfolgskritische Rolle spielt, sollte klar sein. Frühzeitige und offene, an den Veränderungsstand angepasste Kommunikation, vielleicht sogar an die einzelnen „Läufergruppen“ angepasste Kommunikation könnte den Unterschied machen.
Einbindung und Beteiligung aller „Läufergruppen“
Offenheit im Prozess ist ein Erfolgsfaktor. Binden Sie alle „Läufergruppen“ mit Multiplikatoren ein, bitten Sie sie selbst Antworten zu finden auf Fragen, sammeln Sie Ideen ein, Eindrücke etc. Das hilft, zu mobilisieren und dafür zu sorgen, dass alle in die gleiche Richtung laufen.
Geduld und Überzeugungskraft
Manche Menschen sind schnell zu überzeugen, andere brauchen etwas länger. Hierzu hilft Geduld, Wiederholung und ehrliche Überzeugungskraft.
Zeit zur Reflexion
Nehmen Sie sich die Zeit, die Dinge zu reflektieren und mit anderen auszutauschen! Das gilt im Besonderen für das Projektteam, aber letztendlich auch alle anderen mit dem Prozess betrauten Menschen.
Zeit zuzuhören
Diskussionen mit den verschiedenen Gruppen rund um den Veränderungsprozess helfen, Dinge zu vermitteln. Dabei ist Zuhören ist ein wichtiger Faktor. Vielleicht haben Sie nicht auf alle Fragen Antworten, aber das Gefühl, gehört und ernst genommen zu werden, macht es den Menschen einfacher, den Weg mitzugehen. Nehmen Sie offene Fragen mit und beantworten sie verlässlich später. Tun Sie das nicht, wird sich die Kommunikation verselbständigen und Sie verlieren den Einfluss darauf.
Fazit
Das Wissen um den Marathoneffekt hilft, Veränderungsprozesse in Organisationen so zu gestalten, dass möglichst viele Beteiligte über die Ziellinien kommen. Wie bei einem Marathon werden die „Läufer“ zu unterschiedlichen Zeiten am Ziel ankommen. Man kann niemanden zwingen sich anzupassen, aber man kann die Zeit geben, die jeder braucht, um dort hinzugelangen. Dies gilt es für verantwortliche Führungskräfte zu akzeptieren.
Führungskräfte, die den Marathoneffekt berücksichtigen und einplanen, können die Negativfolgen abschwächen und werden mehr Mitarbeiter über die magische Ziellinie bringen.
Dies gilt zum einen und wie ausgeführt für Veränderungsprozesse in Organisationen, gleichermaßen aber auch für Veränderungsprozesse in Stadtteilen, Bürgerbeteiligungsprojekten etc. Auch hier kommen die Effekte und Prozesse zum Tragen.
Dabei beschreibt der Marathoneffekt „nur“ einen Effekt und nicht eine ganze Theorie zur Gestaltung von Veränderungsprozessen. Es gehört also noch mehr dazu, einen Veränderungsprozess zu gestalten.
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