Wenn wir über Gute Orte nachdenken und in diese Thematik schon interdisziplinär einsteigen, ist es sinnvoll, den Begriff „Ort“ auch genauer zu betrachten. In der Soziologie hat er nämlich Geschichte. (Sorry, jetzt wird es etwas theoretisch, muss aber auch mal sein.)
Die Entwicklung des Ortsbegriffs in der Soziologie ist eine Geschichte der zunehmenden Komplexität und Dynamisierung – weg von einer bloßen statischen Kulisse hin zu einem aktiven, sozial produzierten und umkämpften Konstrukt.
Hier ist eine Entwicklung entlang zentraler Phasen und Theorien:
1. Klassische Soziologie: Ort als neutraler Container (Ende 19. – frühes 20. Jh.)
In der Gründungsphase wurde „Ort“ oft als gegeben und vor-sozial betrachtet.
- Émile Durkheim & die Chicagoer Schule (Human Ecology): Der Raum/Ort war hier vor allem ein Territorium, das die soziale Struktur widerspiegelt (z.B. in Stadtmodellen wie den konzentrischen Zonen). Ort war der Schauplatz sozialer Prozesse (Konkurrenz, Invasion, Sukzession), aber nicht selbst sozial konstruiert.
- Max Weber: Behandelte Ort implizit im Kontext von Herrschaft und Bürokratie („Herrschaft über ein Gebiet“), blieb aber nicht der zentrale Fokus.
2. Spatial Turn & die Kritik des Containers (ab den 1970er Jahren)
Hier kommt es zur entscheidenden Wende. Der „spatial turn“ forderte, Raum und Ort als zentral für das Soziale zu begreifen.
- Henri Lefebvre („Die Produktion des Raums“, 1974): Das Schlüsselwerk. Lefebvre bricht radikal mit dem Container-Modell. Raum ist kein leeres Medium, sondern wird ständig produziert. Seine Triade der Raumproduktion ist fundamental:
- Räumliche Praxis (perçu): Der physisch-alltägliche Raum (Weg zur Arbeit, Infrastruktur).
- Repräsentationen des Raums (conçu): Der geplante, konzipierte Raum von Architekten, Stadtplanern, Kapitalisten und Staaten (Karten, Pläne, Gesetze). Dies ist der dominante Raum.
- Räume der Repräsentation (vécu): Der gelebte und angeeignete Raum der Bewohner*innen, voller Symbolik und Widerstandsmöglichkeiten (Hausbesetzungen, Straßenfeste, Graffiti).
Ort wird damit zum Ergebnis und Schauplatz sozialer Kämpfe zwischen diesen Dimensionen.
3. Präzisierungen und neue Dualismen (ab den 1980/90er Jahren)
Lefebvres Impuls wurde aufgegriffen und weiterentwickelt.
- Manuel Castells: Unterscheidet zwischen „Raum der Ströme“ (global, vernetzt, für Macht und Kapital) und „Raum der Orte“ (lokal, gelebte Erfahrung, Alltag). Der Ort steht hier in Spannung zu entorteten globalen Netzwerken.
- Anthony Giddens (Strukturierungstheorie): Ort ist eine physische Lokalität, die durch soziale Praktiken konstituiert wird und diese zugleich ermöglicht (Dualität von Struktur). Er betont die Entbettung sozialer Systeme aus lokalen Kontexten.
- Pierre Bourdieu: Der Begriff des sozialen Raums als Feld von Positionen und Kämpfen ist primär metaphorisch, wird aber auf physische Orte übertragen (z.B. das „Viertel“ als Ausdruck und Verstärker des „Habitus“).
4. Relationale und nicht-repräsentationale Wendungen (ab 2000)
Hier wird Ort noch fluider und prozesshafter gedacht.
- Doreen Massey („Global Sense of Place“): Ihre Definition ist heute kanonisch: Ort ist nicht abgeschlossen, lokal, authentisch oder traditionsverhaftet. Stattdessen ist er:
- Produkt von Beziehungen („global sense of place“).
- Ein Ort der Vielstimmigkeit und Ko-Präsenz unterschiedlicher Geschichten.
- Stets im Werden, prozessual und kontingent.
Der Hafenort z.B. ist durch globale Handelsrouten, Migrationen und Kolonialgeschichte geprägt – er ist ein Knotenpunkt in einem Netz.
- Martina Löw („Soziologie der Städte“, 2001): Entwickelte eine eigenständige relationale Raumtheorie. Raum/Ort wird durch zwei Prozesse konstituiert:
- Spacing: Das (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern.
- Syntheseleistung: Die Wahrnehmung und Verknüpfung dieser Anordnung zu einem sinnvollen Gefüge durch Erinnerung, Pläne und Erwartungen.
Ort ist damit ein prozessuales und sinnhaftes „Gefüge von Positionen“.
5. Aktuelle Tendenzen und Spezialisierungen
- Digitale Orte & Hybridität: Untersuchung, wie digitale Räume (Soziale Medien, Plattformen) mit physischen Orten verschmelzen und neue soziale Ortsbezüge schaffen.
- Material Turn: Die Rolle nicht-menschlicher Akteure (Dinge, Tiere, Ökologie, Architektur) bei der Konstitution von Orten (angelehnt an Akteur-Netzwerk-Theorie).
- Transnationale Räume & Migration: Ort als translokales Phänomen, geprägt durch Pfade, Zirkulation und multiple Zugehörigkeiten (z.B. Heimatorte in der Diaspora).
- Politische Ökologie & Umweltsoziologie: Ort als umkämpfte Schnittstelle von sozialen und ökologischen Prozessen („Umweltschauplatz“).
Zusammenfassung der Entwicklung:

Fazit: Der Begriff hat sich von einem statischen Hintergrund zu einem dynamischen, konstitutiven Element des Sozialen gewandelt. Der moderne soziologische Ortsbegriff nach Lefebvre und Massey betont seine Prozesshaftigkeit („Verdung“), seine Relationalität und seine Machtimplikationen. „Ort“ ist kein gegebener Punkt auf der Landkarte mehr, sondern ein soziales, kulturelles und politisches Ereignis, das ständig gemacht, verhandelt und umkämpft wird. Die „Ortssoziologie“ untersucht genau diese Herstellungsprozesse und ihre gesellschaftlichen Folgen.

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